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Gastbeitrag ZEITonline: Realist ist nur, wer auch träumen kann

Realist ist nur, wer auch träumen kann

Wenn überall in Europa Nationalisten erstarken, müssen die progressiven Kräfte zusammenhalten. Die Zeit, für eine rot-rot-grüne Perspektive zu kämpfen, ist reif.

Ein Gastbeitrag von Axel Schäfer

Vor zwei Wochen fand ein wahrhaft historisches Treffen mit fast 100 Abgeordneten von SPD, Linkspartei und Grünen im Bundestag statt. Das Fenster der Möglichkeiten für 2017 wurde geöffnet und bleibt offen. Der Trialog auf breiter Ebene mit Vertreterinnen und Vertretern aus allen 16 Bundesländern hat gezeigt: Die Zeit ist reif für eine neue Perspektive.

Auch wenn Deutschland im europäischen Vergleich eine sehr geringe Arbeitslosenquote und positive Wirtschaftsdaten aufweist, wird die Kluft zwischen Reich und Arm immer größer. Während die SPD unser Land fairer und sozialer gestalten möchte, mutiert die CDU zu einer Partei des Aussitzens, die kraft- und ideenlos wirkt und in der Flüchtlingsfrage heillos mit ihrer Schwesterpartei CSU zerstritten ist.

Die Bundeskanzlerin und CDU-Parteivorsitzende hat ihre Partei in den vergangenen Jahren in die Mitte der Gesellschaft gerückt und dadurch auch die Entstehung populistischer Bewegungen am rechten politischen Rand ermöglicht.

Es scheint, als sei das Zeitalter vorbei, in dem Konservative oder Sozialdemokraten in Deutschland Wahlergebnisse jenseits der 40 Prozent erlangt haben. Eine Wählerbindung, die solche Ergebnisse ermöglicht, gibt es faktisch nicht mehr.

Dreierkoalitionen haben sich mittlerweile auf Ebene der Bundesländer etabliert. Wo es für sie nützlich ist, wie im Saarland oder in Sachsen-Anhalt, scheint auch die CDU kein Problem zu haben, mit zwei weiteren Parteien zu koalieren. Nur die SPD soll das im Jahr 26 nach der deutschen Einheit noch immer nicht dürfen.

Die deutsche Sozialdemokratie ist eine stolze Partei mit einer über 150-jährigen europäischen Geschichte. Will die SPD gestalten, muss sie ihren Führungsanspruch anmelden. Ja, wir wollen 2017 wieder einen sozialdemokratischen Bundeskanzler stellen. Deshalb müssen Alternativen zur bestehenden großen Koalition ausgelotet werden. Ansonsten begäbe sich die SPD in babylonische Gefolgschaft der Union und leitete damit am Ende ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit ein.

Die große Koalition muss eine große Ausnahme bleiben. Sie kann und darf kein Dauerzustand sein, das würde unserer parlamentarischen Demokratie nachhaltig schaden. Demokratie lebt gerade davon, dass es mehrere Koalitionsmöglichkeiten gibt. Unser Land braucht deshalb dringend klare politische Angebote, die die inhaltlichen Unterschiede deutlich machen.

Sehnsucht nach einem starken, gerechten Deutschland

Mit dem rot-rot-grünen Treffen wurde weder eine Aufkündigung, noch ein Bruch der bis Herbst 2017 gewählten Regierung eingeleitet. Es gab auch keine Vorverhandlungen für eine mögliche Koalition im kommenden Jahr.

Was viele Politikerinnen und Politiker in den drei Parteien eint, ist die Sehnsucht nach einem starken, gerechten und sozialen Deutschland. Die gemeinsame Schnittmenge für ein solches Gesellschaftsbild ist groß.

Bessere Bildungschancen für alle, die volle Gleichstellung von Frauen und Männern, eine moderne Gesellschaftspolitik und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Steuergerechtigkeit, eine sichere Rente und ein Solidarprojekt für alle Menschen in Deutschland – all das geht nur mit einer progressiven Mehrheit. Wir wollen mit Mehrheit eine Politik für die Mehrheit der Menschen machen.

Um dazu endlich eine realistische Machtperspektive zu erlangen, braucht es mehr als nur den kleinsten gemeinsamen Nenner. Der Sozialphilosoph Oscar Negt sprach daher zu recht von einem Kairos, einem günstigen Zeitpunkt für Entscheidungen. Jetzt bietet sich die Möglichkeit, um über gemeinsame Themen und Projekte zu sprechen. Hinzu kommt, dass die Verletzungen und Gräben innerhalb der linken Parteienlandschaft, vor allem zwischen SPD und Linken, teilweise noch tief sind und sich nicht über Nacht heilen lassen. Das braucht Zeit.

Bei einer Vielzahl von Themen, beispielsweise bezahlbares Wohnen, Bürgerversicherung und Steuergerechtigkeit, sind inhaltliche Übereinstimmungen leicht festzustellen, bei anderen Themen wie Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind die Differenzen nur schwer überwindbar. Wer jedoch gleich zu Beginn von Gesprächen über das scheinbar Unmögliche sprechen will, baut bewusst Mauern für eine erfolgreiche Verständigung.

Am Ende wird aber die alles entscheidende Frage zu beantworten sein: Gibt es überhaupt den Willen, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen? Oder gefällt man sich in der Rolle der ewigen Opposition? Bei allen Beteiligten muss der Wille zur Gestaltung der Zukunft unseres Landes bestehen. Willy Brandts Aussage „einer Mehrheit diesseits der Union“, hat deshalb eine besondere Aktualität. Es wird jetzt darauf ankommen, sich zwischen den drei Parteien kontinuierlich auszutauschen, Übereinstimmungen herauszuarbeiten und dabei Vertrauen ineinander zu gewinnen. Unterschiede zwischen den Parteien sind Voraussetzung für eine Kooperation in Vielfalt.

Wir brauchen einen Politikwechsel. Ob es am Ende dazu kommt, entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Die nationalistische Herausforderung überall in Europa ist aber eine Verpflichtung für progressive Kräfte in Deutschland, auch erfolgreich um Gestaltungsmacht in der Regierung zu kämpfen. Oskar Negt hat ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis als historische Bewährungsprobe für die drei Parteien bezeichnet. Realist ist nur, wer auch träumen kann.

Hier gibt es den Artikel auf ZEITonline:

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