Rede von Axel Schäfer zur Änderung des Europawahlrechts.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion, die wir heute über die Änderung des Europawahlgesetzes führen, ist sicherlich eine besondere Diskussion. Denn wir als nationales Parlament treffen solidarisch eine Entscheidung, die die Zusammensetzung, Funktionsfähigkeit und politische Führungsfähigkeit eines supranationalen Parlaments betrifft. Deshalb ist der erste Punkt, dass wir uns noch einmal vergewissern, auf welchem Terrain wir uns befinden.
Wir alle miteinander waren bis 2011 der Meinung, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1979, das zur ersten Direktwahl des EP ausdrücklich die damals bestehende Fünfprozentklausel mit der Verfassung im Einklang sah, natürlich auch in der Gegenwart weiterhin gilt. Denn damals, 1979, hatte das Europäische Parlament – bis auf sehr begrenzte Haushaltsrechte – in der Gesetzgebung, bei der Wahl des Kommissionspräsidenten und bei anderen zentralen Aufgaben nichts zu entscheiden.
Nach dem Lissabon-Vertrag sind wir in der Situation, dass sich die parlamentarische Entwicklung in vielen Stufen – über Vertragsänderungen, die alle parlamentarisch ratifiziert worden sind, und zwar mit sehr großen Mehrheiten im Bundestag wie im Bundesrat – auf eine Weise dynamisch fortgesetzt hat, von der diejenigen, die die Direktwahl in den 70er-Jahren erkämpften, wirklich nur träumen konnten.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll nun für ein Parlament mit außergewöhnlicher Stärke in der Gesetzgebung und Macht gegenüber der Kommission – der faktischen und funktionalen Regierung – keine Sperrklausel mehr gelten, die der Gewährleistung seiner Funktionsfähigkeit dient.
Es gibt da ein paar Missverständnisse, über die wir diskutieren müssen. Wir sind die erste Gewalt und müssen mit der dritten Gewalt diskutieren, vor allen Dingen dann, wenn Vertreter der dritten Gewalt über Bundespressekonferenzen mit uns kommunizieren und nicht nur durch Urteile.
Das grundlegende Missverständnis ist, dass manche denken, dass, weil im Europäischen Parlament 160 Parteien vertreten sind, es auf 10 oder 20 Parteien mehr auch nicht mehr ankommt; dass das Europäische Parlament schon irgendwie funktionieren wird.
Im Hinblick darauf, wie die Parteien, die im Deutschen Bundestag vertreten sind, politisch und finanziell und auch, was die Entscheidungen über Personen angeht, konstituiert sind, könnte man argumentieren: Die CDU gibt es 15-mal, die SPD sogar 16-mal, und für FDP, Grüne und Linkspartei gilt das Gleiche. Die Landesverbände haben in Deutschland eine außergewöhnliche Stärke. Auch ein Parteivorsitzender oder eine Kanzlerin kann nicht von Bundesebene aus vorschreiben, was die Landesverbände zu entscheiden haben. Das ist die Realität bei uns.
Die Realität in Europa ist: Im Europäischen Parlament gibt es sieben Fraktionen, die bei einem Parlament mit Abgeordneten aus 27 Mitgliedstaaten natürlich aus mehr als nur sieben Parteien gebildet werden. Die Parteifamilien, die sich herausgebildet haben, sind etwas Neues, etwas Besonderes und haben eine höhere Verbindlichkeit bekommen, als wir uns das in der Gründungsphase in den 70er-Jahren hätten vorstellen können.
Bei dem gemeinsamen Gesetzentwurf, den vier Fraktionen hier in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, geht es um drei zentrale Punkte:
Der erste Punkt sind die Verbundenheit und die Solidarität mit dem Europäischen Parlament und auch der Respekt vor diesem Parlament, das ausdrücklich für sich definiert hat: Es wäre gut, wenn in den Mitgliedstaaten eine Mindestsperrklausel eingeführt würde. – Hintergrund ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Hintergrund ist aber auch: Außer in Spanien haben die nationalen Parlamente von bereits 26 Mitgliedstaaten der EU eine solche Sperrklausel in ihr Europawahlgesetz aufgenommen. Dieser Punkt ist ganz wichtig; wir sprechen ja immer über das Verhältnis der nationalen Parlamente zum EP. Das ist auch eine Frage von praktizierter Solidarität.
Der zweite Punkt ist, dass es bei der Europawahl 2014 tatsächlich darum gehen wird, dass der Präsident der Kommission – der faktische Regierungschef in der EU – durch das Parlament gewählt wird. Das ist eine fundamentale Änderung, die zur Konsequenz haben wird, dass wir – so hoffe ich, und das wünschen wir, glaube ich, auch alle – zum ersten Mal einen europäischen Wahlkampf führen werden, in dem sich die Wählerinnen und Wähler nicht nur dafür entscheiden können, entweder ihre nationale Regierung abzuwatschen oder ihren Regierungschef zu loben. Es wird 2014 auch darum gehen, wie wir uns als Sozialdemokraten, als Christdemokraten, als Grüne, als Liberale oder als Linke im Europäischen Parlament inhaltlich definieren.
Gleichzeitig sagen wir den Wählerinnen und Wählern damit: Wenn ihr uns wählt – ich hoffe, es wählen viele die SPD –, dann werden wir mit den Grünen und vielleicht noch mit anderen, die guten Willens sind, zusammen einen Kommissionspräsidenten wählen – wenn wir die Mehrheit dafür haben. Wenn nicht, werden die anderen das tun. Das ist die Voraussetzung. Damit wird deutlich, dass die parlamentarische Verantwortung dieses Regierungschefs eine andere ist.
Als Verfassungswirklichkeit wird auch etwas anderes eintreten: Die Staats- und Regierungschefs werden nach der Europawahl einen Vorschlag für das Amt des Kommissionspräsidenten machen, so wie der deutsche Bundespräsident nach dem Ergebnis der Bundestagswahl einen Vorschlag für den zu wählenden Regierungschef macht, und nicht vorher im stillen Kämmerlein irgendetwas aushandeln. Das wird die Konsequenz sein. Denn das Parlament wählt, das Parlament entscheidet dabei.
Der dritte Punkt. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie sich auch die Gesetzgebung in Europa entwickelt hat. Manche glauben ja, es würde alles auf Gipfeln entschieden. Gott sei Dank ist das nicht so. Das allermeiste, was die Frage „Wirtschaft und Währung“ anbelangt, wird immer noch in Europa entschieden, wo die Kompetenzen bestehen.
Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind der Meinung, es müsse dort auch noch mehr parlamentarisiert werden. Dafür braucht man stabile Verhältnisse; das ist überhaupt keine Frage. Zu den stabilen Verhältnissen gehört auch, dass es eine Mehrheit gibt, die größer ist als diejenige, die den Kommissionpräsidenten gewählt hat. Um dieses zu ermöglichen, brauchen wir eine Form bzw. einen Rechtsrahmen durch die Veränderung des Europawahlgesetzes.
Wir sollten uns in die Augen schauen und uns in die Hand hinein versprechen, dass wir diesen Europawahlkampf in dem Geiste führen, in dem wir heute diskutiert haben: als einen wirklich europäischen Wahlkampf. Dafür brauchen wir europäische Parteifamilien. Dafür brauchen wir auch Vereinbarungen oder rechtliche Regeln, was Mindestnormen anbelangt, also eine Sperrklausel. Es braucht vor allen Dingen den gemeinsamen Willen, das durchzusetzen.
In diesem Sinne leisten wir heute etwas Gutes.
Vielen Dank.