25 Jahre Mauerfall. Damals bin ich als Bochumer sofort nach Berlin gefahren, um am Ort des Geschehens sein zu können. Die deutsche Einheit war für mich immer auch ein sozialdemokratischer Traum.
Zum Ablauf: Am Abend des 9. November 1989 kam ich von einer Sitzung „meines“ Ortsvereins nach Hause. Wir erlebten in fassungsloser Freude mit, wie Günter Schabowski in der Pressekonferenz, Oberstleutnant Jäger an der Bornholmer Straße und Hanns Joachim Friedrichs in der ARD die Mauer öffneten. Soweit, so wunderbar für die allermeisten.
Für mich – Wessi aus NRW, geboren in Hessen – war es ein ganz spezielles Glück: Als Sozialdemokrat gehörte ich in der Nachkriegsgeneration zu einer kleinen Minderheit, die links fühlten, europäisch arbeiteten und zugleich von der nationalen Frage angefaßt waren. Historiker wie Peter Brandt und Hans Mommsen waren mir sehr nahe – Stamokaps indess ziemlich fern.
Was tun? Was tun!
Am 10. und 11. November 1989 versuchte ich, freundliche Genossen für einen sofortigen Berlintrip zu gewinnen. Erfolg hatte ich nur bei Udo Bottländer, einem jüngeren Betriebsrat (heute Arbeitsdirektor E.O.N. Hanse), und unserem 9-jährigen Sohn Jan-Robin.
Am Samstag tagte der Bezirksvorstand Westliches-Westfalen mit Hermann Heinemann, Franz Müntefering und Magdalene Hoff an der Spitze. Horst Ehmke berichtete aus dem Parteivorstand in Bonn. Als für Europa zuständiger Referent habe ich beratend an der Sitzung teilgenommen, ohne dass sich viele für meinen Rat interessierten. Letztlich hatten nur Margot von Renesse und Wolf-Micheal Catenhusen die friedliche Vereinigung Deutschlands schon im Blick – sie gehörten dann bei der Hauptstadtfrage zur kleinen Minderheit von sozialdemokratischenNRW–MdB’s, die für Berlin votierten. Bei anderen Repräsentanten unserer geschichtsträchtigen Partei war die Weitsicht eher eine Westsicht.
Samstagabend: Meine Frau mußte ich aus einem Gleichstellungsseminar in Oer-Erkenschwick weglocken und sie davon überzeugen, mit nach Berlin zu kommen. Ihre Begeisterung für diese Tour war überschaubar, Ihre Zuneigung für Berlin dafür umso größer. Also setzten wir uns zu viert in den Nachtzug ab Bochum und erreichten in den Morgenstunden des Sonntags den Bahnhof Zoologischer Garten.
Ein grauer Novembertag begann genauso wie 25 Jahre später. Im Unterschied zu heute entstanden die Staus nicht durch zahlreiche Baustellen und permanente Staatsbesuche. Vielmehr hatten sich damals unübersehbare Menschenschlangen gebildet, die irgendwoher kamen und in Banken und Sparkassen endeten, wo Begrüßungsgeld ausgezahlt wurde.
Wir frühstückten in einem Hotel nahe des Kudamms, das wir bei unseren Berlin-Besuchen immer gebucht hatten, und machten uns gegen 09.00 Uhr auf den Weg zum Potsdamer Platz. Jan-Robin und ich kletterten mit hunderten anderer auf die Mauer, Gaby und Udo rauchten mit ebenso vielen gemeinsam gegen die Kälte. Auf der anderen Seite der betonierten Teilung – offiziell „antifaschistischer Schutzwall“ genannt – lag ein freies Feld, was weniger einem Platz, dafür aber umso mehr einer Kraterlandschaft entsprach. Die Volkspolizisten forderten uns per Megaphon auf, von der Mauer herunterzusteigen – ein bürokratisches Ansinnen, was wir mit Lachen und Pfeifen quittierten. Die Gegenmaßnahme der Ordnungsmacht: Einsatz von Wasserwerfern. Aber im real nicht-existierenden Sozialismus funktionierten auch die Polizeifahrzeuge nicht und wir hatten weiterhin einen ziemlich ungestörten Blick auf das Geschehen. Mittlerweile waren riesige Baukräne herangeschafft worden, die begannen, einzelne Mauerstücke hoch- und wegzuheben. Walter Momper (SPD), regierender Bürgermeister mit rotem Schal, dirigierte das Ganze und begrüßte nach gelungener Grenzöffnung die ersten Ost-Berlinerinnen und Berliner. Viele Menschen lagen sich weinend in den Armen. Wir weinten mit. (Wenn ich heute diese Zeilen schreibe, habe ich das gleiche Gefühl wie damals).
Wir gingen zu Fuß durch den Bezirk Mitte, sprachen Leute an und wurden angesprochen. Wir saßen in Cafés, redeten und staunten. Das nächste Stück fuhren wir per Anhalter. Im Westen benutzen wir ein Taxi. Die meisten Maueröffnungen schafften wir zu Fuß, manche mit der U-Bahn. Der Tag verging ohne Zeitplan. Wir ahnten etwas von friedlicher Revolution, wußten aber das meiste nicht so genau. Willy Brandts Aussage „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ hatten wir zumindest im Ohr, das Gefühl für ein wahrhaft historisches Ereignis im Herzen.
Am Nachmittag mußten wir wieder zum Bahnhof Zoo, weil Montag der 13. ein normaler Arbeitstag für normale Arbeitnehmer war. Der Fernzug, für 600 Personen ausgelegt, transportierte ca. 1.800 Menschen durch die DDR. Bis Hannover gab es keine Sitzmöglichkeiten. Diesen Nachteil konnte ich ausgleichen, indem ich meine Frau stehend umschlungen hielt und sie nicht rauchen konnte. Jan-Robin nahm das alles völlig entspannt und meinem Freund Udo, der sich immer mit Ironie zu helfen wußte, blieb nichts anderes übrig, als glücklich zu strahlen. Nach acht Stunden und weit nach Mitternacht waren wir zurück im Ruhrgebiet, zurück in einem anderen Land, und doch wieder im selben.
Ich dachte an Wolf Biermanns Gedicht zum Prager Frühling „Wir atmen wieder Genossen, wir lachen die faule Traurigkeit raus aus der Brust, Mensch wir sind stärker als Drachen und Ratten, und hatten’s vergessen und immer gewußt“.
À propos: Ich mußte mich am 7. November 2014 im Deutschen Bundestag für die Feierstunde entschuldigen, da mein bester Freund heiratete und ich ihm als Trauzeuge zur Seite stehen durfte. So verpaßte ich einen Auftritt, über den Herr Bundestagspräsident Lammert wieder einmal allein entschieden hatte und dafür von Herrn Biermann eine lange Nase gezeigt bekam. Gleichzeitig watschte der Sänger die LINKE als SED-Nachfolgepartei ab.
Ich gehörte 1976 zu den Jusos, die Wolf Biermann nach Bochum eingeladen hatten und war sicherlich so etwas wie ein Fan. Lang ist’s her: Zuerst hatte der gesamtdeutsche Barde den Irak Krieg von George W. Bush begrüßt, dann die CSUumarmt und schließlich die CDU-Vorsitzende gelobt. Das war dann doch zu viel…
Und Berlin: Madame Geschichte schaut von Ferne zu und dreht allen Ignoranten eine lange Nase. Auf dem Bremer Parteitag 1991 habe ich als einer von ganz wenigen aus Nordrhein-Westfalen für Berlin als Hauptstadt gestimmt. Im Bundestag waren alle westdeutschen Parteien mit knapper Mehrheit für Bonn, aber im vereinten Deutschland reichte es für Berlin. Dank an Willy Brandt hier, dank an Helmut Kohl dort. Ein bißchen Dank auch an Gregor Gysi. (Vermasselt haben ein Pro Bonn-Votum die Verhandlungsführer, weil sie sich für unfehlbar hielten: Es waren die Chefs der Staatskanzleien von NRW und Bayern. Beide stiegen hinterher zu Ministerpräsidenten auf. Aber diese Geschichte möchte ich am 3. Oktober 2015 erzählen.)